"Wer keine Rückfahrkarte gelöst hat, steigt bitte aus", verkündet der Chauffeur im Postauto St. Moritz - Maloja in Sils. Niemand regt sich. Auch wir nicht, obwohl wir kein Retourbillet gelöst haben. Dafür schallendes Gelächter im vollbesetzten Bus. In diesem Fall ist das "rückfahren" wörtlich zu verstehen. Weil ein Gelenkbus die Dorfstrasse blockiert, ist unser Fahrer gezwungen, das Postauto mehrere hundert Meter rückwärts durch die enge Strasse zu steuern, bis er endlich wenden kann. Applaus für den Chauffeur. Und für uns ein humorvoller Start der viertägigen Wanderung, die uns auf der Via Engiadina von Maloja nach St. Moritz und weiter auf Höhen bis 2500 müM nach Bever, Zuoz und bis nach Zernez führt.
Glücklich ohne fliessendes Wasser im Hause
Mit einem satten Anstieg beginnt die Wanderung ausgangs Dorfes. Über Felsplatten und Naturtreppen führt der Weg Schritt für Schritt hinauf. Während der Atem auf einer Höhe von rund 2000 Metern über Meer schneller geht, ist die alpine Umgebung faszinierend. Nackte Felsbrocken ragen immer wieder aus dem steilen Hang. Der Verlauf ihrer Gesteinsschichtungen ist deutlich sichtbar. An Felskanten, dem Wind und Wetter ausgesetzt, stehen einzelne Arven. Mal ist der Blick frei Richtung Bergell, dann wieder über das Oberengadin. Bald auch auf den Silsersee. Tiefes Einatmen der herrlichen Bergluft. Auf einer Bergkuppe grasen Kühe. Ein Bauer recht das Heu im steilen Gelände zusammen. Er wird es später ins Tal hinunter auf seinen Hof bringen. Die siebzig Kühe, die hier auf der Alp sind, stammen aus dem Kanton Zürich.
Der gut unterhaltende, wenig exponierte Wanderweg führt etwas später über eine sumpfige Hochebene Richtung Grevasalvas. Die gepflegten Steinhäuser des Weilers sind mit Natursteinen gedeckt. Am Dorfbrunnen wäscht eine Frau ihre grosse Teigschüssel ab. "Wir haben im Haus Strom, jedoch kein fliessendes Wasser", erklärt uns Valeria. Sie sitzt hinter einem Tisch, auf dem sie den Wanderern ihre selbstgemachten Konfitüren und Kastanienmehl zum Verkauf anbietet. Ihr strahlendes Gesicht lässt keine Zweifel aufkommen: Sie ist während den Sommermonaten hier oben glücklich zu Hause.
Wir aber geniessen nach gut fünf Wanderstunden und 18 Kilometern den Komfort der heutigen Zeit. Gerade der Wegabschnitt durch eine längere Schutt- und Gesteinspartien fast hinunter nach Sils und ein längerer Anstieg von Silvaplana Richtung St. Moritz hat unseren Körper aufgeheizt. Die erfrischende Dusche im Hotel in St. Moritz weckt unsere Lebensgeister wieder, die schmackhaften Engadiner Spezialitäten Capuns und Pizzocchel ersetzen die verbrauchten Kalorien.
Wie an einer Perlenkette aufgereihte Dörfer
Mit dem Blick Richtung Piz Nair sind wir am nächsten Tag bald über der Waldgrenze. Die Alpenflora zeigt sich von der schönsten Seite. Türkenbund, Enziane, geflecktes Knabenkraut; ich kann nicht anders, ich muss den Vanilleduft des Männertreus erschnuppern. Der Blick öffnet sich entlang des Weges immer mehr über die Seen des Oberengadins. Zuerst Richtung Laj da Champfer und Silvaplanersee, später auch über den St. Moritzersee und über den weiten offenen Talboden Richtung Pontresina. Murmeltierpfiffe da und dort. Und plötzlich stehen wir still: In unmittelbarer Nähe knabbern zwei junge Murmeltiere an Grashalmen. Sie lassen sich nicht stören.
Um die Bergstationen Corviglia und Marguns ist die Idylle für kurze Zeit vorbei. Biker, Jogger und Ausflügler geniessen auf ihre Art die Umgebung. Kaum sind wir wieder auf einfachen Wanderwegen, gehört die Alpenwelt wieder uns. Die Aussicht auf dem Höhenweg entlang des Piz Padella ist traumhaft. Beim Mittagsrast können wir uns am Panorama kaum satt sehen. Unter uns der St. Moritzer See, im Hintergrund die Berninagruppe mit dem Piz Palu und Biancograd, das offene Tal Richtung Pontresina, der Blick entlang des sich durchs Tal schlängelnden Inn Richtung Unterengadin. Rebecca, meine junge Begleiterin, ist begeistert: "Spannend, das Engadin aus dieser Perspektive zu sehen. Ich kenne es sonst nur von Bergwanderungen. Von hier aus sehe ich die Dörfer wie an einer Perlenkette aufgereiht".
Längere Abstiege durch Arven- und Lärchenwald hinunter in die Dörfer für die Übernachtung lassen sich auf dieser abwechslungsreichen mehrtägigen Wanderung nicht vermeiden. Das ermöglicht, die wunderschönen Engadiner Dörfer am Abend zu erkunden; Ortschaften, die man sonst auf der Hauptstrasse umfährt. Insbesondere in Bever und in Zuoz ist der alte Dorfkern wunderschön erhalten. Erscheinen uns in Bever die Häuser bereits gross und mächtig und reich geschmückt mit Sgraffito, Erkern und Blumen, übertrifft Zuoz unseren Eindruck in diesen Belangen.
Nach gut zwölf Kilometern führt uns die Via Engadina auf der dritten Etappe von Bever direkt auf den Hauptplatz von Zuoz. Welch ein imposanter Blick auf den grossen, geschlossenen Platz, wo noch vor hundert Jahren die Oberengadiner Landsgemeinde stattfand. Bürger- und palastähnliche Bauten sind hier eindrückliche Zeugen aus dem 16. und 17. Jahrhundert.
Beim Weitwandern Veränderungen erleben
Die letzte Etappe von Zuoz nach Zernez zeigt, was der Reiz einer Weitwanderung auch ausmachen kann. Veränderungen, sei es beim Baustil, der Sprache (Richtung Unterengadin wird mehr Rätoromanisch gesprochen) oder auch in der Landschaft erleben wir unmittelbar. Das breite Tal des Inn, das um St. Moritz mit den tiefblauen Seen fasziniert, verengt sich nun immer mehr. Tief unten, meist verdeckt von dichtem Wald, fliesst das Wasser in blass grünlich-bläulicher Farbe. Da und dort sehen wir am steilen Hang den Zug der Rhätischen Bahn über Bogenbrücken fahren.
Durch Arven- und Lärchenwälder und entlang von Wiesen erreichen wir auf einem breiten Wanderweg unser Endziel Zernez. "Das waren coole Tage, die viel zu schnell vergingen", bilanziert Rebecca auf der Heimreise im Zug. Nach der frischen, wohltuenden Bergluft erwartet uns im Unterland auch die Sommerhitze.